Penthesileas Moment der Freiheit
Penthesilea kommt aus einer Welt, in der es die Liebe nicht gibt, nicht geben darf. Das Gesetz ihres Frauenstaates gestattet die Beziehung zum Mann nur zum Zweck der Fortpflanzung und nur mit dem ohne Herzensregung im Kampf bezwungenen Mann. In dieser radikalen Absage an die Liebe ist der Amazonenstaat eine weibliche Extremreaktion auf das Gewaltprinzip der Männerherrschaft. Das ist Abwehr durch Angleichung: um sich männlicher Gewalt zu erwehren, werden die Amazonen zu Kampfmännern in Frauenkörpern. Sie unterwerfen sich dem männlichen Prinzip der Gewalt.
Die Tragödie Penthesileas ist die Tragödie einer gescheiterten Befreiung. Aus der Tiefe ihrer Liebe zu Achill, einer für sie ganz neuen Erfahrung, wächst der Amazonenkönigin die innere Stärke zu, dem unmenschlichen Gesetz zu trotzen und sich auf das Wagnis der Liebe einzulassen. Sie liefert sich aus und erlebt darin den großen Augenblick der Freiheit. Aber noch kann sie sich nicht vorstellen, daß auch Achill bereit ist, dem Gesetz der Gewalt die Stirn zu bieten. Sie fühlt sich betrogen und nimmt auf bestialische Weise Rache. Damit verfällt sie wieder dem Gesetz der Gewalt.
Das Erschütternde und ganz und gar Einmalige des Penthesilea-Zyklus von Christine Rieck-Sonntag liegt darin, daß es dieser Künstlerin gelungen ist, hindurchzustoßen durch das Vordergrundtheater der wilden Leidenschaften, des Kämpferstolzes und der sogenannten Verschlingung von Eros und Tod und vorzudringen zum innersten Kern des Dramas: dem Moment der Befreiung von der Herrschaft des Gesetzes durch die bedingungslose Preisgabe an die Liebe. Mit tief anrührender Ausdruckskraft hat Christine Rieck-Sonntag in den zentralen Blättern des Zyklus die Bedürftigkeit, die Verletzbarkeit, die schutzlose Verlorenheit der sich preisgebenden Liebenden dargestellt. Und eben hier und nirgendwo sonst zeigt sich die vielberedete „Unbedingtheit“ Penthesileas. Im Kampfesfuror wie in ihrer Racheorgie ist sie ganz und gar bedingt durch das Gesetz einer Gesellschaft, die der Liebe keine Chance läßt.
Hans Krieger
